Perfektionismus, Gerechtigkeitswahn und Komplexität

In den Wettkampfbestimmungen Kanu-Slalom 2013 betrug die Gesamtlänge der Regelungen rund um die Startberechtigung bei Deutschland-Cup, Deutschland-Cup und DM Schüler etwa 2.850 Zeichen. In den aktuellen Wettkampfregeln sind es etwa 4.400 Zeichen. Etwa 50% mehr. Die Zahlen mögen nicht ganz exakt sein, aber sie zeigen: das Regelwerk bläht sich immer weiter auf – oder besser formuliert: das Regelwerk wird immer mehr aufgebläht, denn das geschieht ja nicht von alleine.

Die ursprünglichen Regelungen waren sicher nicht perfekt. Das Ziel war damals: klare und verständliche Regeln. Und sicher sind auch einige Anpassungen sinnvoll, so z.B. die Öffnung des DC U18 für die besten Schüler. Stichwort: Erfahrungen auf schwerem Wasser sammeln; andere Nationen sind uns da weit voraus. Aber perfekte Regeln wird und kann es im Sport meiner Einschätzung nach nicht geben. Man kann immer Sonderfälle konstruieren. Aber Wettkampfsport heißt auch, dass es Sieger und Verlierer gibt. Nicht jeder kann/muss an Deutschen Meisterschaften teilnehmen (können).

Aber dann kommt der typisch deutsche Perfektionismus ins Spiel; Regelungen sind anscheinend nur dann akzeptabel, wenn alle gleichermaßen profitieren. Keiner darf verlieren. Eine politische Regelung muss also der Familie auf der Hallig Süderoog genauso Vorteile bringen wie den Bewohnern Münchens oder Hamburgs.

Alle oder keiner. Der absolute Gerechtigkeitswahn. “Regelung X ist doch nicht gerecht, weil …”. Nein, natürlich nicht, denn “Gerechtigkeit” wird immer scheitern, wenn man nur die Einzelfälle betrachtet. Absolute Gerechtigkeit kann und wird es nicht geben. Gerechtigkeit liegt immer im Auge des Betrachters. Und so mehren sich die Sonderregeln. “Weil das Patenkind des Nachbars des Schwagers meines Autohändlers …”oder so ähnlich. Einzelfälle sollte man aber nicht zur allgemeinen Regel machen. Und bei den meisten Vorschlägen zu Regeländerungen kann man die Frage stellen “Cui bono” – wem nützt es?

Andersherum kommen immer wieder Klagen, dass das Regelwerk zu kompliziert ist. Auf meine Frage bei der Ressorttagung 2022, “Wer kann – ohne nachzugucken – alle Wege nennen, wie man sich für den Deutschland-Cup und DC-U18 qualifizieren kann bzw. wie man zum Saisonende im DC /DC-U18 verbleibt?” gab es Gelächter. Von den Fachleuten. Und wenn die Fachleute es schon es nicht wissen, wie soll es dann der einfache “normale” Vereinsvertreter wissen. Geschweige denn: verstehen. Und wenn kein Verständnis für das Regelwerk nicht da ist, dann schwindet auch das Verständnis für den Sport allgemein.

“Maximale Flickschusterei” habe ich es in der Ressorttagung drastisch genannt – und meine klare persönliche Meinung dazu ist: weniger ist manchmal mehr. Mut zur Lücke. Kein Regelwerk wird jemals alle denkbaren Sonderfälle so abdecken können. Und wir müssen auch nicht aus jedem Einzelfall eine neue Regel machen.

P.S.: Vielleicht denkt jetzt der ein oder andere: soviel persönliche Meinung gehört nicht in ein “Ressortleiter-Tagebuch”. Ich halte aber – neben den fachlichen Aspekten – auch solche Aspekte bei der Weiterentwicklung des Sports für wichtig und wir sollten das auch offen diskutieren.

Ein Gedanke zu „Perfektionismus, Gerechtigkeitswahn und Komplexität“

  1. Hallo Markus, danke für diesen Beitrag. Den Inhalt kann ich unterschreiben. Ich hatte gerade diese Woche eine Anfrage von zwei Verantwortlichen, die mich baten, eine Meldung zur DM auf Richtigkeit zu prüfen, weil sie sich unsicher waren. Einer davon seit vielen Jahren Kampfrichter Stufe 8, der zweite lizensierter A-Trainer.
    Also meine Bitte an alle (s.o.):
    <>
    Gruß
    Volker

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